Zu Axel Honneths Idee des Sozialismus (1)

Zu Teil 2 und Teil 3

Sozialismus ist ein schillernder Begriff. Aus meiner Sicht müsste eine Theorie des Sozialismus heute dazu befähigen,  rationale Aussagen über die Notwendigkeit, Möglichkeit, mögliche Gestalt und (ethische) Vertretbarkeit einer Periode des  Übergangs zu einer weltgesellschaftlichen Ordnung, die  auf Grundlage (öko-) kommunistisch bestimmter Interaktionsbedingungen funktioniert, zu treffen und im herrschaftsfreien Diskurs zu verteidigen.

Sie muss es entschieden erleichtern können, seriöse Erkenntnisse über mögliche Gründe,  Bedingungen und Formen des Heranreifens und der Etablierung einer Ordnung  zu gewinnen, die es den globalisierten Menschen und deren Institutionen erlaubte, Bildung und Einsatz der wesentlichen Mittel menschlicher Existenzsicherung und Bereicherung  in gemeinschaftlicher Absprache zu organisieren. Sie muss klären helfen können, inwieweit es heute notwendig, möglich und geboten ist, die menschlichen bzw. für menschliche Zwecke genutzten Produktivkräfte und Produktionsmittel  in gemeinschaftlicher Verantwortung  zu entwickeln und anzuwenden. Inwieweit brauchen und wie kommen wir zu einem (öko-) kommunistisch bestimmten Umgang mit gegenständlichen wie geisitigen Produktions- und Distributionsmitteln, mit Technologie, Infrastruktur, den Naturressourcen, dem menschlichen Arbeitsvermögen, gesellschaftlichen Ressourcen wie  Wissen, Wissenschaft, Kunst und Können, Lernfähigkeit, soziale Fantasie, der Leidenschaft, Reichtum zu vermehren und sie zu genießen und nicht zuletzt das menschliches Begehren und menschliche Fähigkeit, soziale bzw. ökologische Verantwortung wahrzunehmen?

Zu klären wären vor allem die aktuelle Gestalt und das (Transformations-) Potenzial des bereits von Marx/Engels konstatierten Widerspruchs zwischen dem gesellschaftlichen (längst auch weltgesellschaftlichen) Charakter des kapitalistischen Füreinander-Arbeitens bzw. voneinander Lebens und der privateigentümlich bzw. national bornierten Art, in der kapitalistisch vergesellschaftete Subjekte des Wirtschaftsgeschehens das zu organisieren haben. Und es gilt, herauszufinden, was gegenwärtig und in naher oder mittlerer Zukunft in Richtung einer (öko-) kommunistischen Auflösung dieses grundlegenden Widerspruchs geschieht und voran zu bringen wäre.

Meine Variante der sozialistischen Frage ist: wie können Individuen, die künftig mit Gewissheit in einem noch weitaus höherem Maße als bisher selbst denkende und entscheidungsfähige Wesen zu sein haben, dahin kommen, die inzwischen entwickelten bzw. angelegten Produktivkräfte (die immer auch Destruktivkräfte sind) in einer gesamtgesellschaftlich bzw. ökologisch vernünftigen Weise zu nutzen und weiter zu entwickeln? Und welche Übergänge in Richtung eines gesamtgesellschaftlich bzw. ökologisch vernünftigen Zusammenwirkens dürften unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte, Arten von Betroffenheit, Bedenken, Entwicklungsbedingungen, Gefahren, Chancen  usw. für hinreichend viele Menschen und Institutionen weltweit machbar und vernünftig sein bzw. es unter welchen Voraussetzungen werden ?

Es mag bedauerlich sein, dass solche Fragen auf einer gesellschaftlich halbwegs relevanten Ebene gegenwärtig eher unter dem Label „gesellschaftliche Transformation“, „ökologischer Umbau der  Industriegesellschaft“ usw. behandelt werden, und keineswegs  als Fragen des Sozialismus. Dies sollte aber nicht verwundern. Sozialismus wird heute weitgehend mit der Geschichte des sogenannten „realen Sozialismus“ identifiziert, und auf ähnliche Experimente möchte die meisten Menschheit aus gutem Grund verzichten. Das hat sein Gutes. Immerhin scheinen inzwischen keine Zweifel mehr übrig am Irrsinn des Versuchs, mittels Monopolisierung der wesentlichen Produktions- Distributions- und Kommunikationsmittel in die Hände autokratisch regierter Partei- und Staatsapparate eine dem Kapitalismus überlegene, weil sozialere, freiere, vernünftigere und in allen Belangen reichere Gesellschaft auf den Weg zu bringen. Leider heißt das gegenwärtige Schweigen über Sozialismus nicht unbedingt, dass der Irrsinn des Versuchs tatsächlich auch verstanden ist.

Mit einem 2015 erschienenen Buch bemüht sich nun der Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Axel Honneth „die Idee des Sozialismus“ (so der Titel seiners 2015 erschienene Betrachtung) von ihr anhaftendem Unrat zu befreien und ihr ein modernes und attraktives Antlitz zu verleihen. Das verdient Respekt und wissenschaftliche Neugierde. Mein Fazit ist allerdings: Wenn der Philosoph sein nobles Ziel grandios verfehlen wird, so dürfte das vor allem an seiner konsequenten Empirie-Verweigerung liegen, die das Ganze als gut gemeinte Einmannphantasie erscheinen lassen. Je nach Blickwinkel sympathisch naiv oder ignorant bis anmaßend. Das Problem der konsequenten Luftigkeit seines Unternehmens zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Honneth seine 150 Seiten starke Suche nach Antworten auf die Frage, warum „die Ideen des Sozialismus ihr einstiges Anregungspotenzial scheinbar so unwiderruflich verloren haben“ der Frage des realsozialistischen Irrsinns gerade einmal zwei dürre Absätze widmet.

„Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime im Jahre 1989, auf den intellektuelle Beobachter gern verweisen, um daraus ein Zerrinnen aller Hoffnungen auf einen Zustand jenseits des Kapitalismus abzuleiten, kann wohl kaum als Ursache herangezogen werden; denn die empörten Massen, die heute zurecht die wachsende Kluft öffentlicher Armut klagen, ohne indes über eine konkrete Vorstellung über eine bessere Gesellschaft zu verfügen, mussten gewiss nicht erst durch den Fall der Mauer davon überzeugt werden, dass der Staatssozialismus sowjetischer Prägung soziale Wohltaten nur um den Preis der Unfreiheit spendete.

Zudem hatte die Tatsache, dass bis zur russischen Revolution eine reale Alternative zum Kapitalismus nicht existierte, die Menschen nicht davon abgehalten, sich ein gewaltloses Zusammenleben in Solidarität und Gerechtigkeit auszumalen; warum also sollte der Bankrott des kommunistischen Machtblocks mit einem Mal dazu geführt haben, dass diese anscheinend tief sitzende Fähigkeit zur utopischen Überschreitung des Bestehenden heute verkümmert ist?“

S. 16

Das sichtbare Bemühen, diese unerfreuliche Episode als abgehakt und für den Zweck der Neuformulierung einer sozialistischen Perspektive irrelevant erscheinen zu lassen, hat einen Preis. Wenn Honneth etwa die Rede von „kommunistischen“ Regimen übernimmt, um deren Irrelevanz für seine Perspektive einer runderneuerten „Idee des Sozialismus“ zu zeigen, umgeht er damit auch die nicht unwesentliche Frage, was genau das „Kommunistische“ der realsozialistischen Diktaturen ausgemacht haben soll, d.h. auf Basis welcher Bestimmung er dessen Realität oder Abwesenheit messen würde. Das gilt auch für die inhaltliche Grundlage des Terminus „Staatssozialismus“. Die staatsparteieigentümlich bestimmte Vergemeinschaftungsillusion der „realsozialistischen“ Regime kann gewiss als Versuch (!) gewertet werden, über den Weg des Staatsparteieigentums an den notwendigen Mitteln der Existenzsicherung und Bereicherung zu einem Ende von Ausbeutung, Klassenspaltung, sozio-ökologischer Verantwortungslosigkeit usw. zu kommen. Die gewesene Realität (!) des Versuchten (d.h. von Sozialismus in der Variante des Staatssozialismus) zu behaupten impliziert allerdings, dass diese Versuche zumindest in dem Sinne erfolgreich waren, dass die mit der Sozialismusbehauptung gegebenen Zukunftserwartungen nachgewiesenermaßen auf dem Weg ihrer Erfüllung waren.

Waren sie es? Die Frage stellt sich nicht erst seit dem Mauerfall.

Wer heute freiwillig darauf verzichtet, nach tatsächlichen Grundlagen, Merkmalen, Problemen oder Perspektiven dessen zu fragen, was das Sozialistische am behaupteten „Staatssozialismus“ ausgemacht haben soll, um auf dieser Grundlage das Ausmaß der gewesenen Gegenwart bzw. Abwesenheit des Behaupteten ermitteln zu können, verlässt den Pfad der Wissenschaft und übernimmt schlicht die Rechtfertigungsmuster der Partei- und Staatsapparate. Die aber hatten den Realitätsgehalt ihrer Sozialismusversprechen mittels geheimpolizeilich gesicherter Monopolisierung der wesentlichen Produktions- und Kommunikationsmittel behaupt, also keineswegs im „herrschaftsfreien Diskurs“.

Für ein mehr wissenschaftliches Herangehen in dieser Frage hätte Honneth sich von Marx inspirieren lassen können:

Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. (…)

Die empirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen. Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind.

Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 19 – 27

In der Charakterisierung des Sowjetreiches nicht von den Dogmen und Mystifikation über seine gesellschaftlichen und politischen Gliederung auszugehen, wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern von den wirklichen Interaktionsbedingungen der Individuen wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig waren, hätte den Autor darauf bringen können, dass nicht erst der Mauerfall und die Auflösung der Sowjetunion das Scheitern dieses historischen Großexperiments markierte.

Nicht der Rede wert scheinen für Honneth auch die  Probleme der ideologische Wirkkraft und Bedeutung der in den Begriff des „realen Sozialismus“ (aber auch dem des Staatssozialismus) geladenen Mystifikation. Im Gegensatz zu wirklichen Indikatoren der Entwicklung sozialistischer Perspektiven im Sinne einer systematischen Herbeiführung  gemeinschaftlicher (Mit-) Verantwortung für die sozialen bzw. ökologischen Voraussetzungen und Wirkungen, Standards, Zwecke und Nebenwirkungen usw. des produktiven Füreinanders, verflogen die mit der historischen Gespensterstunde des Kommunismus im Zusammenhang stehenden Sozialismusillusionen tatsächlich erst mit dem Zusammenbruch der dem Spuk zugrunde liegenden Zwangsherrschaft. Paradoxerweise hatte eben die gewaltsam angemaßte Deutungsallmächtigkeit der autokratisch regierten Staatsparteien bis zum buchstäblichen Gehtnichtmehr auch die verzweifelte Hoffnung genährt, dass die den Koloss ideologisch Halt verleihenden Heilsversprechen einmal ein geistiges Eigenleben entwickeln und eine sozialistische Reform befeuern könnten, die all die bisherigen Enttäuschungen,  Verbrechen und Opfer ihrer Sinnlosigkeit berauben und „die empörten Massen, die heute zurecht die wachsende Kluft öffentlicher Armut klagen, ohne indes über eine konkrete Vorstellung über eine bessere Gesellschaft zu verfügen“ am Ende doch auf den – dann reformierten – Staatssozialismus sowjetischer Prägung bauen können, der ihnen nun auch ohne ihnen den Preis der Unfreiheit abzuverlangen, soziale Wohltaten spenden kann.

Das zweite Argument, mit dem Honneths seine Behauptung zu stützen versucht, dass dem von ihm so bezeichneten „Bankrott des kommunistischen Machtblocks“ keinerlei Bedeutung für die heutige  Funkstille in Sachen Sozialismus zukommt, zeigt recht deutlich seinen Unwillen, die Bedeutung der nachhaltig demoralisierenden und ernüchternden Erfahrung des realsozialistischen Experiments in Betracht zu ziehen und was ungerechtfertigtes Festhaltens an Sozialismusillusionen auf Basis von Verdrängung seiner unangenehmen Wahrheiten für die Idee des Sozialismus bedeutet.

Zudem hatte die Tatsache, dass bis zur russischen Revolution eine reale Alternative zum Kapitalismus nicht existierte, die Menschen nicht davon abgehalten, sich ein gewaltloses Zusammenleben in Solidarität und Gerechtigkeit auszumalen; warum also sollte der Bankrott des kommunistischen Machtblocks mit einem Mal dazu geführt haben, dass diese anscheinend tief sitzende Fähigkeit zur utopischen Überschreitung des Bestehenden heute verkümmert ist?

Dass die erlebte Realität der mittels Russische Revolution unter dem Label Sozialismus geschaffene „reale Alternative zum Kapitalismus“ den Menschen das Ausmalen eines per Sozialismus  ermöglichten „gewaltlosen Zusammenlebens in Solidarität und Gerechtigkeit“ verleidet haben könnte, hält Honneth offenbar für undenkbar. Aber lässt sich, wie er sein Projekt beschreibt,

„… nachweisen, dass im Sozialismus durchaus noch ein lebendiger Funken steckt, wenn seine leitende Idee nur entschieden genug aus seinem im frühen Industrialismus wurzelnden Denkgebäude herausgeschält und in einen neuen gesellschaftstheoretischen Rahmen wird,“

S. 11-12

 … ohne einen Anflug von  Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass aus einem sozialistischen Gutgemeint ein historisches Schlechtgelaufen geworden war, was genau geschah, wie das geschehen konnte und welche Lehren daraus zu ziehen sind?

Zweifel sind angebracht. Bin selbst gespannt, wie es weitergeht. (Mitdiskutanten willkommen)…

 Fortsetzung folgt in Bälde

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