Versuch, Hartmut Rosas Lob der „UNVERFÜGBARKEIT“ zu verstehen (1)

30. Dezember 2020

Zu Teil 2

Hartmut Rosas Plädoyer für mehr „Resonanz“ oder für eine Resonanzgesellschaft scheint derzeit in aller Munde und so muss es nicht überraschen, dass es mir innerhalb nur einer Woche gleich zweimal in persönlichen Zusammenhängen begegnete. Zunächst war ein langjähriger Freund während eines ausgedehnten Spaziergangs unter anderem auf Rosas Resonanztheorie zu sprechen gekommen und hatte seine Freude darüber zum Ausdruck gebracht, dass dessen systemtheoretischer Ansatz Wege der Ententfremdung und der Emanzipation aus dem „Bloßes-Mittel-zum-Zweck-anderer-Sein“ aufzuzeigen scheint, die ohne bürokratischen Zentralismus auskommen. Nur wenige Tage danach drückte mir eine Freundin Rosas neues Buch mit dem Titel UNVERFÜGBARKEIT in der Hand. Es war ihr empfohlen worden, doch nach nur wenigen Seiten war sie zu dem Ergebnis gekommen, dass sich für sie die Mühe des Durchackerns wahrscheinlich nicht lohnen würde.

Nun wollte ich mir eh Rosas kritische Würdigung des marx-engelsschen Verständnis von Entfremdung (und Wege, sie aufzuheben) anschauen, also ok. Schön. Einige Einwände gegen Rosas Theorie waren mir bereits vorher begegnet, wie dass Resonanz für schlimme Dinge (Klimawandelleugnerei, Faschismus usw.) nicht gerade wünschenswert sei. Doch versicherte mir mein Freund, dass Rosa überzeugende Argumente dagegen ins Feld führt, die zeigen, dass solche temporären Resonanzen in einer Resonanzgesellschaft nach seiner (Rosas) Vorstellung gerade keine Chance haben würden, die Gesellschaft als Ganze in den Abgrund zu ziehen. Ich bleibe skeptisch, und ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass meine Erwartungen geradezu himmelhoch jauchzen.

Wie auch immer ist Hartmut Rosas Büchlein über „UNVERFÜGBARKEIT“ mir eine willkommene Gelegenheit, meinen in letzter Zeit arg vernachlässigten Weblog neues Leben einzuhauchen, zumal Facebook mich gerade wegen angeblicher Putintroll-Beleidigung („Tri, tra Troll Lallla, Putins Kasper ist schon da“) zu einer Zeitstrafe von 30 Tagen verdonnert hat (was im Übrigen auch dem eigenen Buchprojekt sehr guttut).

Ich werde das in kleineren Häppchen genießen – und kommentieren.

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Das Anthropozän gestalten!

16. Mai 2020

Zur Machbarkeit planetarischer Vernunft

Ein erster Einblick in das Projekt, an dem ich gerade arbeite.  Ich hoffe, damit in nicht allzu fernen Zukunft eine brauchbare Handreichung für alle vorlegen zu können, die meinen, dass die Parole „System change instead of Climate change“ über das Stadium einer linksidentitären Provokation hinaus gelangen sollte, dies aber eine etwas nähere Auseinandersetzung mit der Frage erfordert, wie vermieden werden kann, dass aus einem Gutgemeint erneut ein Schlechtgelaufen wird. Kritik, Ideen, Fragen aller Art herzlichst erwünscht.  Benötigt wird beizeiten auch Hilfe bei der Übersetzung ins Englische.

Worum geht es?

Dieses Buch soll ermutigen, über das Ende der Geschichte kapitalistischer Vernunft hinaus zu denken und einen offenen Diskurs über Notwendigkeit, Realisierungs- und Rationalitätsbedingungen eines organisierten Übergangs zu „öko-kommunistisch“1 bestimmten Produktionsbedingungen zu wagen.

Warum?

Die menschliche Gestaltungskraft ist zum prägenden Faktor des biologi­schen, geologischen und atmo­sphärischen Geschehens auf der Erde ge­worden. In den Geowissenschaften wird diskutiert, diese Ver­änderungen als eine neue Periode der Erdgeschichte zu verstehen, das Anthropozän, das Erdzeitalter des Menschen. Das ist keine frohe Botschaft, die vom Sieg menschlicher Vernunft über die zivilisationsge­fährdende Gewalt eines unbe­herrschten Naturzustands kündet. Die gesellschaftli­chen Mechanismen, die dem vernunftbegabten Wesen eine solche Wirkmacht be­schert haben, treten den han­delnden Individuen und deren Institutionen im Gegenteil als eine ihnen fremde Naturgewalt gegenüber, die sie unterjocht, statt von ihnen beherrscht zu werden.2

Marx vor nunmehr über 150 Jahren formulierte Zustandsbeschrei­bung scheint verblüffend aktuell.

„Die soziale Macht, d.h. die vervielfachte Pro­duktionskraft, die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammen­wirken der verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eig­ne, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen wo­her und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Rei­henfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft.“3

Wir erleben heute eine bedrohliche Zuspitzung dieses paradoxen Zustands. Die inzwischen weltweit interagierenden Subjekte des anthropogenen Zusammenwirkens, Individuen, Institutionen oder Assoziationen, verfügen über eine schier unendlich erscheinende Vielfalt an Möglichkeiten, vernunftgeleitete Entscheidungen zu treffen. Ihre „kombinierte Produktivkraft“ konnten sie dabei ins Unermessliche steigern. Moderne Wissenschaft und Demokratie erlauben Aufklärung auch über die Kehrseiten unserer menschlichen Siege über die Natur. Doch ungeachtet all unserer Kenntnisse über das Zerstörungsvermögen, das ein nahezu ungebremstes Wachstum menschlicher Kraft und Herrlichkeit bis heute akkumuliert hat, scheint es nach wie vor ein Ding der Unmöglichkeit, das anthropogene Zusammenwirken insgesamt nach Maßgaben sozialer oder ökologischer Vernunft zu gestalten. Unser globalisiertes Zusammenwirken ist uns immer noch nicht zur „eig­nen, vereinte Macht“ geworden. Mensch und Natur bleiben den stets bedrohlicheren Launen der Naturgewalt ausgesetzt, als die sich ihr eigenes Zusammenspiel gestaltet.

In diesem Zustand taumelt das menschliche „Laufen und Wollen“ in die geologische Menschenzeit. Mit welcher Perspektive? Was könnte Wege in ein soziales Zeitalter der menschheitlichen Selbstbeherrschung ebnen? Hilft der Rückgriff auf Marx Vision einer Menschheit, die es den weltweit interagierenden Individuen, Gruppierungen und Institutionen gestattet, ihren „Stoffwechsel mit der Na­tur rationell re­geln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftauf­wand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn4?

Als jemand, der sich seit den Zeiten seines politischen Erwachsenwerdens in den 1970er Jahren für die ökologischen Dimensio­nen des Menschseins interessiert und sich insbesondere nach Nutzung des zweiten Bildungswegs und Aufnahme seines Studiums der Soziologie in den 1980er Jahren, immer wieder intensiv mit dem Marx-Engels Werk auseinanderset­zen konnte, überrascht mich der akute Gebrauchswert der vor nunmehr über 150 Jahren formulierten Perspektive nicht.

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Taz-Chefreporter enthüllt: Sloterdijk kritisiert jetzt das Klima

10. Dezember 2015

Peter Sloterdijk hat jetzt eine Klimaphilosophie, und mit der will er „vom ICH zum WIR“ gelangen. So schreibt es Peter Unfried in der Taz vom 5.12.2015, und weiter: Sloterdijk „nennt den Preis, den Menschen für die Freiheit zu zahlen haben“ und fragt: „haben wir es mit der Individualisierung übertrieben?“

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Über Moishe Postones Bemühungen, Marx anders zu interpretieren (1)

13. Juni 2015

Die Welt und was daran zu verändern ist kann tatsächlich nicht aus dem begriffen werden, was sich die Menschen vorstellen. „Die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen“ (Anm. 1) kritisch verstehend in den Blick zu nehmen heißt, den Warensinn  zu bedenken, dem sie notgedrungen unterliegen und der uns alle antreibt. Soziales Vermögen ist heute wesentlich Kaufkraft. Weil menschliche Existenzsicherung und Bereicherung gegenwärtig vor allem auf die Produktion von Waren basiert, die sich auf dem Markt zu behaupten haben.und die nur im Tausch gegen das allgemeine Warenaneignungsmittel Geld erworben werden können, gilt als sozial schwach, wer über wenig Geld verfügt, Es ist allerdings nicht mehr zu übersehen, dass der von  Marx / Engels konstatierte Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen (immer mehr auch weltgesellschaftlichen) Charakter kapitalistischer Produktion und der privateigentümlichen (nationalstaatlich leidlich regulierten) Aneignung der Produktionsergebnisse nicht länger nur ein formaler Widerspruch ist, der im Gegensatz zu einem tatsächlich sozialen Gegensatz niemanden wirklich zu interessieren bräuchte.

Diese Entfremdung, um den Philosophen verständlich zu bleiben (Anm. 2) scheint nun tatsächlich zur unerträglichen Macht zu werden. Da aber auch der Unmut darüber notwendig borniert ist, da von der gegenwärtigen Unmöglichkeit bestimmt, die Ergebnisse des Produzierens, (sowie deren Qualität, Voraussetzungen, Mengen, Bedingungen, Risiken und Nebenwirkungen) in gemeinsamen Abstimmungsprozessen mitzubestimmen, wären Theorien bzw. Theoretiker*innen an sich sehr gefragt, die an Marx Analysen anknüpfend helfen, eine Perspektive der Emanzipation aus dem gegenwärtigen Warensinn zu finden.

Dass entsprechende Versuche nicht von heute auf morgen zu einem rundum brauchbaren Konzept führen, sollte auch nicht  verwundern. Das gilt auch für Moische Postones Bemühungen unter der Überschrift  „Marx neu denken“ (Anm. 3) Den Rest des Beitrags lesen »


Zu Althussers Kampf gegen sozialistischen Humanismus als Leitbegriff einer Theorie sozialer Emanzipation (2)

11. April 2015
Alles, was wir schreiben, ist natürlich von unserer Unerfahrenheit und unserer Unwissenheit geprägt: man findet da Ungereimtheiten und Irrtümer.  Unsere Texte und Formulierungen sind provisorisch und für eine Berichtigung bestimmt.In der Philosophie  ist es wie in der Politik: ohne Kritik keine Berichtigung.

Louis Althusser im Interview in Für Marx,  S. 341

Im ersten Teil dieser Erörterung hatte ich folgendes bemerkt:

Wie sehr die Theorie der „Diktatur des Proletariats“ als eine (fragwürdige) IDEOLOGIE  funktioniert(e) zeigte sich nicht zuletzt daran, dass Althusser in „Für Marx“ das Selbstbild des Stalinismus als „Diktatur des Proletariats“ und die der Chruschtschow-Administration  als „Überwindung der Diktatur des Proletariats und im Übergang zum Kommunismus befindlich“ umstandslos für bare Münze nahm. Den Stalinismus nannte Althusser damals ein (verbrecherisches) „Überbauphänomen“ auf einem sozialistischen Fundament. Bei einem halbwegs wissenschaftlichen Herangehen müsste aber die Frage (gegebenenfalls neu) aufgeworfen werden, was denn damals die Realität dieses Übergangs ausmachte (und damit die Realität des Kommunismus, in die UdSSR Chruschtschows angeblich überging)

Einer der Gründe für diese aus heutiger Sicht recht seltsam anmutende Idealisierung der sowjetischen Wirklichkeit der 1960er Jahre scheint mir in Althussers damaliger Weigerung zu liegen, dem Begriff der „Entfremdung“ irgend einen Gebrauchswert für die „marxistische“ Theoriebildung zuzugestehen. Aber wie sollte die gehen, ohne systematisches Bemühungen um ein hinreichendes Verständnis der historischen Gestalt, Bedeutung und Notwendigkeit nichtkommunikativer, hinter den Rücken der Akteure ablaufender, nicht zwischenmenschlich vermittelter Verhältnisse zu den sozio-ökologischen Voraussetzungen und Wirkungen des eigenen Handelns? Und wann und wodurch diese „Entfremdung“ unerträglich und (kommunistisch?) zu überwinden ist – und tatsächlich auch (kommunistisch!) überwunden werden kann?

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Wahrheit statt Kommunismus? Zu Carolin Amlingers „verkehrte Wahrheit“

9. November 2014

Die von der Soziologin und Philosophin Carolin Amlinger verfassten Reflexionen über Die verkehrte Wahrheit hatte meine Neugierde geweckt. Das 2014 in der Edition LAIKAtheorie erschienene Buch verspricht Erhellendes „zum Verhältnis von Ideologie und Wahrheit bei Marx/Engels, Lukács, Adorno/Horkheimer, Althusser und Žižek„. Allein der Buchdeckel, hell, abwaschbar, doch mit griffiger Oberflächenstruktur, macht, dass man das Buch gern in die Hand nimmt. Durch jeweils nach innen geknickte Enden lässt sich der Buchdeckel von vorn wie von hinten als Lesezeichen verwenden. Das alles signalisiert den Willen des Verlags, Lesevergnügen zu bereiten.

Den nach innen geklappten „Lesezeichenenden“ lassen sich der Anlass der Mühe entnehmen:

Slavoj Žižek und Allain Badiou setzen der [im postmodernen Diskurs] postulierten Unmöglichkeit von Sinn im sozialen System positiv das Fundament der Wahrheit entgegen.“

Damit kommt es nach Meinung der Autorin „zur Renaissance von zwei Begriffen, die in der Philosophie des 21. Jahrhunderts  bislang nur noch rudimentär eine Rolle spielten: Ideologie und Wahrheit“.

Oh! Die Vorstellung, mich durch eine beinahe 200 Seiten starke Suche nach Ideologie und Wahrheit an und für sich, einem entsprechend korrekten Ideologie- und Wahrheitsbegriff usw. beißen zu müssen, dämpfte zunächst einmal meinen Frohgemut.

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Einige Bemerkungen zu Silke Helfrichs Reflexionen über Commons, Institutionen, Recht und Eigentum

15. Juni 2013

Ich hatte neulich in aller Herrgottsfrühe den im Commons-Blog am 6. 6.13 eingestellten Beitrag mit dem Titel „Commons-Institutionen sind nur Hülle, nicht der Kern“  (Teil 2/4)  kommentiert. Dem folgte neben einer Entgegnung die herzliche Bitte, mich in Zukunft etwas weniger verschachtelt auszudrücken.

Ja, manchmal drängt es mich, mal schnell etwas anzumerken, und es wird dann schnell komplizierter als dass es in der gerade zur Verfügung stehenden Zeit gebührend einfach gesagt werden kann. Und schon ist der Schachtelsalat angerichtet.

Deshalb lege ich meine „ökokommunistischen“ Gedanken zum Commons-Blog-Beitrag nun  hier dar.

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Zu Althussers Kampf gegen sozialistischen Humanismus als Leitbegriff einer sozialistischen Theorie sozialer Emanzipation (1/2)

28. August 2012

Wer nach strukturellen Grundlagen ökologisch reflektierter Mitmenschlichkeit sucht, und die Marx/Engels-Erkentnisse und Ideen als eine hilfreiche Quelle der Inspiration und Erkenntnisgewinnung für eine solche Perspektive betrachtet, wird sich an Althussers Essay-Sammlung „Für Marx“ aus den 1960’er Jahren reiben müssen. (Zu Teil 2/2)

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1. November 2008

Viel Hoffnung grünt derzeit um einen Trend hin zur Ökologie als Privatprofit-Motiv. Im Sinne ökosozialistischer Persektiven ist das auch gut so, liebe Genossinnen und Genossen. Aber man sollte nicht vergessen, dass nur eine ökologische Gesamtrechnung Auskunft über den sozialen Gewinn machen könnte. Das (sogar mit einigem Vergnügen) zu bedenken hilft der folgenden Marx-Schatz zu den Stichworten Gebrauchswert, Produktionszweck, Entfremdung, Arbeitsteilung & gesellschaftlicher Reichtum. Er wurde vom Projekt Gutenberg des Spiegels aus den Tiefen der „Marx? Kernstevergessen!“ See gehoben.

Karl Marx

Abschweifung über produktive Arbeit

Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien usw. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweigs mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als ,,Ware“ auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein.

Weiter im Text geht’s beim Projekt Gutenberg


Modernität statt Zwangsvergemeinschaftung?

4. Oktober 2008

Wie wird in Linkspartei-Kreisen über ökologische Perspektiven diskutiert?

In einem Beitrag der Reihe Standpunkte– 7/2007 der Rosa Luxemburg Stiftung über linke Öko-Politik wendet sich Dr. Ulrich Schachtschneider gegen linke Bevormundung und Zwangsvergemeinschaftung

Linke Nachhaltigkeitspolitik akzeptiert die Pluralität der Moderne

(…) Die soziale Frage mitdenken heißt ebenso, die Sozialstrukturen der Moderne mitzudenken. Gegen sie kann (und sollte) keine Umweltpolitik gemacht werden. Die Moderne ist durch eine Tendenz der Fragmentierung der Lebenswelten gekennzeichnet. Normen und Werte unterliegen einer Entsubstantialisierung. Es wird immer weniger Übereinkünfte über einen bestimmten, richtigen Lebensstil geben. Die Milieus mit ihren Konsumtionsformen, Verhaltensregeln und Lebensformen driften auseinander, sie nehmen kaum mehr Kenntnis voneinander.

Vor diesem Hintergrund macht es keinen Sinn, bestimmte ökologisch motivierte Lebensstile verallgemeinern zu wollen, etwa durch Appelle. Der Einzelne steht in der modernen Gesellschaft vor der Aufgabe, sein nicht mehr vorgegebenes Leben zu inszenieren und sich durch seine gelungene Inszenierung von anderen abzuheben. Dies kann etwa einer kleinen Gruppe durch Vorleben eines ökologisch besseren Lebensstils gelingen. Dieses Milieu zieht ihren Distinktionsgewinn daraus, dass sie hier Vorreiter sind. Genau dieser Mechanismus verhindert aber die Verallgemeinerung ihres Lebensstils.

Die distinktionsfördernde Avantgardeposition ist ein positionelles Gut, dass mit seiner Verbreiterung schwindet. Wir können in der modernen Gesellschaft nicht erwarten, dass sich ein relevanter Teil der Menschen diesem Lebensstil anschließt. Es gibt hunderte anderer Möglichkeiten, sich zu inszenieren, die für die meisten Menschen nahe liegender sind.

Aus der Pluralisierung der Lebensstile folgt, das Regeln abstrakter werden müssen, sollen sie die Chance auf Akzeptanz, auf Geltung bei allen haben. Wir können etwa nicht im Detail vorschreiben, welche Wagen mit welchen Spritverbräuchen zu fahren sind oder nicht. Wir können zum Beispiel nicht geltungsbedürftig Städtern ihre 30-L-Geländewagen verbieten und Ökofreaks auf dem Lande die tägliche Nutzung ihrer alten Lieferwagen weiter gestatten, auch wenn uns die letztere Kultur wahrscheinlich eher zusagt.

Ebenso werden wir nicht vorschreiben können, wie viel Gemüse aus Übersee und wie viel aus regionaler Produktion von jedem zu konsumieren sind oder im Angebot eines Lebensmittelladens vorhanden sein sollten, mit welchen Möbeln jemand seine Wohnung einrichtet, welche ökologisch korrekten Kleidungsstücke er sich kauft usw.

Wenn wir nicht im Detail regeln können und wollen, kann dies nur über den Preis gehen. Nur er ermöglicht den Individuen eine der Modernen angemessene Handlungsfreiheit bei gleichzeitiger Setzung einer Grenze seines Gesamt-Umweltverbrauchs.