Ist die „In-Wert-Setzung“ wirklich DER Sündenfall Teil 2 (Zum Teil 1 geht’s hier)
Was ich mache, fragt Facebook ab und zu. Hier kann ich’s ja sagen. Schmökere gerade im Sammelband „Karl Marx – Philosophie, Pädagogik, Gesellschaftstheorie und Politik“ Der Untertitel kangt mir vielversprechend: „Aktualität und Perspektiven der Marxschen Praxisphilosophie“. Sätze wie die folgenden versetzten der frohen Erwartung allerdings einen Dämpfer:
„Obwohl Marx die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis nie aufgegeben hat, (…) verfolgt er mit seinem unabgeschlossenen Mamutwerk, der Kritik der politischen Ökonomie“ ab 1858 und deren Herzstück „Das Kapital“ (1867) ein eingeschränktes und zugleich radikales Ziel, nämlich die Beweisführung, dass die kapitalistische Wertökonomie (…) grundsätzlich die Negation der Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens und ihrer Fundierung in die Natur darstellt, sodass dadurch die unausweichliche praktische Notwendigkeit einer Negation der Negation, d.h. der revolutionären Überwindung der Wertökonomie einsichtig wird (…) Die Kritik der politischen Ökonomie ist insofern eine rein negative Ökonomie, die an der Wertlogik des Kapitals immanent zu zeigen versucht, dass sie die Arbeit und die Natur negiert und daher grundlegend in einem sich steigernden Widerspruch zum menschlichen Leben steht, weshalb grundsätzlich eine Reformierung oder Humanisierung der kapitalistischen Wertlogik ausgeschlossen ist. Daher bleibt für das Überleben der Menschheit praktisch nur die praktische Aufgabe der revolutionären Umwälzung der Weltökonomie übrig.
Eine solche negative Theorie kann sich nicht aus sich selbst begründen, sondern sie setzt die geschichtsmaterialistische Dialektik der frühen Schriften – von den Pariser Manuskripten von 1844 bis zum Kommunistischen Manifest von 1848 – zu ihrer Grundlegung voraus.“
Wolfdiedrich Schmied-Kowalzik: Zur Aktualität der Praxisphilosophie von Marx in „Karl Marx – Philosophie, Pädagogik, Gesellschaftstheorie und Politik“ S. 26-27
Du meine Güte. Marx hat „die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis“ nie aufgegeben? Was soll denn diese „Dialektik der gesellschaftlichen Praxis“ sein? Klar man kann sich ein wenig was zusammenreimen. Gesellschaftliche Praxis ist stets Eingreifen in Wechselwirkungen gesellschaftlicher Kräfte, Interessen, Widerspüche oder Potenziale, die sich auf Grundlage der historisch gewachsenen Produktionsbedingungen entfalten oder auch nicht entfalten können. Sie ist insofern stets auch Teil eines sich entwickelnden Ganzen, dessen Entwicklung (und Entwicklungsbedingungen) in Widersprüchen verläuft, in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausgetragen wird. Aber wie kann Marx die Tatsache, dass eine gesellschaftliche Praxis stets nur Element zahlloser Gegensätze ist, aufgeben? Ist vielleicht gemeint, dass Marx nie aufgehört hat, sich für ein beherztes Eingreifen in die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und -konstellationen stark zu machen, weil auch die Überwindung der vorherrschenden Grundlage (Art der Organisation) des gesellschaftlichen Treibens nur aus diesem Treiben heraus geschehen kann, und sowohl die Elemente die den historischen Systemwandel am Ende schaffen als auch die, die dem entgegenstehen, erst zu einem Punkt gekommen (gepuscht) sein müssen, der diese Möglichkeit auch tatsächlich eröffnet? Bleibt erst einmal unklar.
Klar wird jedenfalls, dass Schmied-Kowalzik die von Marx analysierte strukturelle Gleichgültigkeit kapitalistisch Handelnder gegenüber den sozialen bzw. ökologischen Voraussetzungen und Folgen des (wesentlich privateigentümlich bestimmten) Tun und Lassens und die in der Grundstruktur der kapitalistischen Selbstbereicherungsökonomie angelegten Zwänge zur steten Ausdehnung der Fähigkeit, Mensch und Natur auszubeuten, auf den ausgesprochen unpraktischen Begriff „Negation der Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens und ihrer Fundierung in die Natur“ bringt. Klingt zwar sehr dialektisch, vermittelt aber eine eher statische Sicht, die praktisch keinen Unterschied zwischer Anlagen zur Zerstörung, deren Vollendung und was alles dazwischen kommen mag, zulässt. Übrigens auch keinen Kampf der Gegensätze! „Negation“ ist einfach kein geeigneter Begriff zur Kenntlichmachung der Ausbeutung von Mensch und Natur. Negiert Kapitalismus Arbeit? Negiert Kapitalismus Bodenschätze?
Nicht der Nachweis der historischen Reife, also der tatsächlichen Notwendigkeit eines Übergangs zu einem (öko-) kommunistisch bestimmten Stoffaustausch und ob die Bedingungen seiner Möglichkeit (wie etwa eine hinreichend motivierte und qualifizierte Massenbasis) erfüllt oder in absehbarer Zeit erfüllbar sind , sondern der von Marx geleistete Nachweis, dass das Kapital sowieso „Arbeit und die Natur negiert“ und daher „in einem sich steigernden Widerspruch zum menschlichen Leben steht“ soll also „die revolutionäre Umweltzung der Weltökonomie“ auf die Tagesordnung setzen. Und nein, diese „Theorie“ kann sich natürlich nicht aus sich selbt heraus begründen. Man muss schon frühere Werke von Marx gelesen haben.
Klingt eher nach einer Philosophie der rechten Lesepraxis als nach der Philosophie einer gesellschaftsverändernden Praxis, die an bestehende Widersprüche und Möglichkeiten des Eingreifens ansetzt. Aber vielleicht kommt ja noch etwas.
Ja, natürlich, es folgt ein Praxisbezug – oder zumindest die Behauptung seiner Notwendigkeit. Allen die heute „von der kapitalistischer Wertökonomie betroffen sind“ wie etwa „all die unzähligen, die in Familie und Gesellschaft Tätigen, die nicht entlohnt werden, jedoch sehr wohl pernament zur basalen Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens und seiner verbesserten Weiterentwicklung beitragen“ bleibt nichts übrig als die Wertökonomie revolutionär umzuwälzen.
Ja, aber warum bleibt ihnen nichts anders übrig? Und wie lässt sich die Wertökonomie revolutionär umwälzen? Das geht, so erfahren wir auf S. 30, nicht durch „einfache Negation“ mittels „Abschaffung des Geldes oder Auflösung der aufgehäuften Reichtümer“ sondern in der „Umwendung eines verkehrten Verhältnisses.“
Aha.
Ein „verkehrtes Verhältnis“ besteht nach Schmied-Kowalzik …
… aus zwei Polen deren Vordringlichkeit vertauscht ist.
Hmmm. Heißt zum Beispiel:
„Gegenwärtig werden alle ökonomischen Entscheidungen aus dem Blickwinkel der Verwertung des Werts und der Kapitalakkumulation getroffen. Es muss erreicht werden, dass sie mit Rücksicht auf die Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschen und in Verantwortung für den humanen Fortbestand der Menschheit erfolgen“
S. 30-31
Nicht ohne Zufall ist die Leideform die bevorzugte Grammatik für agitatorische Pampflete aller Art. Kritisierte Zustände als etwas zu beschreiben, das getan, gedacht, beabsichtigt, gewollt, erreicht usw. WIRD, erlaubt, über die im jeweiligen Kontext handelnden und ihr Handeln bedenkenden Personen, Institutionen, Kräfte und Gegenkräfte zu schweigen, nur um die Ungenannten mit um so größerer Leidenschaft als Mächte des Bösen zu itentifizieren, die den unschuldig leidenden Kräften des unzweifelhaft Guten (das Volk, die 90 Prozent oder schlicht UNS) stets Übles antun oder antun wollen und ihnen zu diesem Zweck irgend etwas uneigentliches suggerieren. Dafür lassen sich dann eine Unmenge Fakten zusammentragen, die das „Suggerierte“ zu bestätigen scheinen, doch ein analytisches Herangehen, das die widerstrebenden Kräfte und deren Handlungsrahmen ins Visier nimmt, um etwa zu identifizieren, was genau die Überwindung problematisch gewordener Handlungsbedingungen möglich machen könnte, sähe anders aus.
Zwar müssen kapitalistische Unternehmen und Investoren ihre ökonomische Entscheidungen in der Tat „aus dem Blickwinkel der Verwertung des Werts und der Kapitalakkumulation“ treffen, aber sie sind beileibe nicht die einzigen Akteure. Wer einzukaufen hat, was er oder sie zur Existenzsicherung benötigt oder was dazu dienen könnte, das Leben im mehr oder minder bescheidenen Rahmen einfach, schön und interessant zu machen, trifft seine bzw. ihre ökonomischen Entscheidungen keineswegs „aus dem Blickwinkel der Verwertung des Werts und der Kapitalakkumulation.“ Hier, also beim sogenannten „unproduktiven Konsum“, ist der Blick auf dem Nutzpotenzial gerichtet, der nicht in Geld ausdrückbar ist. Das dafür Geld herzugeben ist, muss als ein notwendiges Übel in Kauf genommen werden. Der Gebrauch des Erworbenen steigert nicht dessen Tauschwerte, er vernichtet sie.
Man mag einwenden, dass das aus dem Selbstbereicherungstrieb des Kapitals gespeiste Warenangebot letztlich über die Bedürfnisse der kapitalistisch vereinzelten Einzelnen dominiert, die (in Kombination mit deren Zahlungskraft) die Nachfrage speisen. Das ist allerdings nur eine Halbwahrheit. Agenten des kapitalistischen Selbstbereicherungsvermögens müssen beim Design ihres Angebots die Bedürfnisse (die ermittelbaren und möglichst auch die noch möglichen) des nachfragenden Parts antizipieren. Schließlich winken Extraprofite, wo exklusive Innovation ein Warenangebot mit Gebrauchswerteigenschaften und / oder Preisen ermöglichen, welche die Herzen der Konsument*innen höher schlagen lassen, und die die potenziell preisdrückerische und auch nicht wenig erfinderische Konkurrenz eine Weile nicht zu bieten hat. Der Dauerbrenner des anti-kapitalistischen Agit Props, wonach „Bedürfnisse im Kapitalismus keine Rolle spielen“, ist eben deshalb so ein Rohrkrepierer, deren Donnerhall nur die linken Kannoniere selbst beeindruckt. Darüber hinaus geschieht es von Zeit zu Zeit, dass menschliche Bedürfnisse eine Neigung zum Idealismus entwickeln. Der kann durchaus helfen, den Blickwinkel ökonomischer Entscheidungen dahin gehend zu erweitern, dass dabei in Betracht gezogen werden kann, inwieweit sie Fortschritte in Richtung einer Welt mit sozio-ökologisch vernünftigeren Produktionsbedingungen erlauben könnten.
Es ist leicht, auf die „materiellen“ (das heißt, die durch guten Willen und individuelles Bemühen nicht ohne weiteres überwindbaren) Hindernisse zu verweisen, die gegenwärtig verhindern, dass solch ein, wenn man so will, „proto-kommunistischer Idealismus“ zur materiellen Gewalt würde, d.h. tatsächlich eine menschliche Weltgesellschaft Wirklichkeit werden ließe, deren ökonomische Entscheidungen auf Grundlage eines öko-kommunistisch bestimmten Nachhaltigkeitmanagements zu treffen wären. Es ist auch leicht, die Unvollkommenheit gegenwärtiger Bemühungen zu brandmarken, mittels Öko- und Fair-Trade-Label für eine definierte Warengruppe Öko- und Sozialstandards „in den Blickwinkel ökonomischer Entscheidungen“ zu rücken oder mittels staatliche Verordnungen zugunsten sozio-ökologisch korrekter Produktionsstandards, Ökosteuern, Emmissionsrechtehandel oder ähnliches in die Warenpreisstruktur einzugreifen, weil all das schließlich „das verkehrte Verhältnis“ nicht „verkehren“, keine echte „Negation der Negation“ bedeuten und also den Kapitalismus nur „grün anstreichen“ würde.
Es sollte aber auch nicht allzu schwer fallen, den idealistischen Fehlschluss zu erkennen, den es bedeutet, diese strukturell angelegten Unvollkommenheiten als Argument GEGEN Bemühungen zu wenden, im Rahmen des kapitalistisch Möglichen für faires Wirtschaften und ökologische Vernunft zu tun, was getan werden kann.
eWas bedeutet es, wenn Schmied-Kowalzik stattdessen empfiehlt …
„… mit allen Mitteln praxisphilosophischen Denkens (…) konkrete Alternativen zu suchen und aufzubauen, die uns aus der Abhängigkeit der Wertlogik des Kapitals befreien.“
S.31
Philosophie der Suche?
Erste Fundstellen:
Natürlich werden die Nutznießer der bestehenden privaten Wertaneignung ihre Privilegien nicht freiwillig aufgeben, sondern sie werden vielmehr mit allen Mitteln gegen eine revolutionäre Bewegung vorgehen, die ihnen ihre Privilegien streitig machen. Der „Klassenkampf“ ist daher sicherlich keine Erfindung der revolutionären Bewegung, sondern eine Realität, die – von der Schule an – in fast allen Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft fest verankert ist. Diesen gilt es, in allen seinen Formen aufzudecken und bewusst zu begegnen.“
Die mit allen Mitteln des praxisphilosophische Denken erfolgte Suche nach konkreten Alternativen zur gesellschaftlichen Praxis im Rahmen des historisch Möglichen (die natürlich die derzeit einzig mögliche Praxis ist) hat also herausgefunden, dass es Klassengegensätze gibt und also Klassenfeinde, die ihr Klasseninteresse, nämlich „Nutznießer der bestehenden privaten Wertaneignung“ zu bleiben, mit allen Mitteln verteidigen. Also käme es darauf an, diesen Klassenkampf um die Bewahrung der kapitalistischen Aneignungsprivilegien „in allen seinen Formen aufzudecken und dem daraus erwachsenen Kampf um die Bewahrung der bewusst zu begegnen.“
Ebd.
Sieht jetzt nicht wirklich danach aus, als wäre das praxisphilosophische Denken geeignet, eine historische Situation mit ihren spezifischen Herausforderungen tatsächlich zu erfassen, Anhaltspunkte für so etwas wie Sozialismusreife zu benennen und auf der Grundlage nützliche Ideen für ein praktisches Eingreifen zu präsentieren. Sieht eher nach der Idee aus, dass „das Praxisdenken“ nur eine geheimnisvolle Weltformel in Besitz nehmen bräuchte (Befreiung aus der Abhängigkeit der Wertlogik des Kapitals) um fortan ohne alle Empirie zu den schärfsten Ergebnissen zu kommen. Man braucht also nicht etwa in Erfahrung bringen, was warum wen genau in die Lage versetzten könnte, die kapitalistische Selbstbereicherungsökonomie (nationalstaatlich gesicherte Warenproduktion auf Grundlage privateigentümlicher Bereicherungsvermögen, Lohnarbeit, Konkurrenz) zu überwinden, welche Zeiträume in Betracht zu ziehen, welche Zwischenschritte zu schaffen sind usw. usf.
Zwischenschritte?
Zivilisatorische Erungenschaften INNERHALB oder gar mittels der modernen Warenproduktion, die es zu bewahren und auszuweiten gelte, scheinen in diesem Blickwinkel ebenso wenig denkbar, wie Privilegien jenseits des kritisierten Nutznießens aus der „bestehenden privaten Wertaneignung“, wie sie etwa aus den regionalen Unterschieden in der Entwicklung einer kapitalistischen Moderne und der sich daraus ergebenen Stellung innerhalb der globalen Ausbeutungsverhältnisse hervorgehen. Hier besteht das ungerechte Nutznießen nicht in „der bestehenden privaten Wertaneignung“ sondern in der bestehenden privaten Gebrauchswertaneignung. Was nun?
Weil sich aus analytisch wenig begründeten Klassenkampfparolen keine gesellschaftliche Praxis ableiten lässt, mit der sich der Übergang zu einer planetarischen Ordnung, die einen öko-kommunistisch bestimmten Stoffwechsel erlaubte, tatsächlich einleiten ließe, bleibt einer so verstandenen „Praxisphilosophie“ nur, altbekannte Phrasen über „Ziele einer sozialgerechten und ökologisch lebenswerten Welt “ zu bemühen, und ebenso hoch und heilig zu versprechen „erstrebbare Alternativen zu entwickeln und zu erproben“.
„Aus dem Angedeuteten wir wohl die ganze Problematik und Komplexität einer praxisphilosophischen Theorie revolutionärer Praxis sichtbar: Mitten in einer vom Kapitalismus durchdrungenen Welt stehend und deren Represalien ausgesetzt, hat sich eine kommunistische Bewegung – im Sinne von Marx – auszubilden, um an allen Fronten gesellschaftlicher Praxis auf eine Überwindung der kapitalistischen Wertökonomie hinzuwirken.
Sie hat ausgerichtet auf die sittlichen Ziele einer sozialgerechten und ökologisch lebenswerten Welt konkret erstrebbare Alternativen zu entwickeln und zu erproben, die der Umwälzung der gegenwärtigen kapitalistischen Wertökonomie dienen.“
Ebd.
Bloße Behauptungen, deren Richtigkeit in den Sternen stehen – und natürlich in den Marx-Engels Werken. Immerhin lässt sich viel gute Absicht erkennen.
Soweit erst einmal
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