Der Fortschritt, sich als Menschen zu erkennen:
„Sobald Jude und Christ ihre gegenseitigen Religionen nur mehr als verschiedene Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes, als verschiedene von der Geschichte abgelegte Schlangenhäute und den Menschen als die Schlange erkennen, die sich in ihnen gehäutet, stehn sie nicht mehr in einem religiösen, sondern nur noch in einem kritischen, wissenschaftlichen, in einem menschlichen Verhältnisse.“
Marx: Zur Judenfrage. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 430 (vgl. MEW Bd. 1, S. 348-349)
Die Metaffer scheint mir eine Anspielung auf die Schöpfungsgeschichte zu sein, die heute im Allgemeinen so interpretiert bzw. projektiert wird, dass Eva, diese Schlange, Adam zur Erkenntnis der Folgen guten und schlechtern Gärtnerns verführt habe. Adam gab nach,und da Gott keine anderen Schlaumeier neben sich duldete, verfügte er die Ausweisung aus dem Jäger- und Sammlerdasein mit Gartenbau und es begann das lebenslange Ackern und Viehzüchten.
Wissenschaftliche Neugierde gilt nach der Interpretation also als eine Sünde weshalb die folgenden Generationen Menschen ihren Wissensdurst damit zu bezahlen haben, dass sie ihr Brot fortan im Schweiße ihres Angesichts verdienen müssten. An diese Interpretation bzw. Projektion halten heute besonders leidenschaftlich jene fest, für die der Weg zu einem „gottgefälligen“ Dasein ausschließlich über „harte Arbeit“ führt, die also die „Strafe Gottes“ für allzu große Wissbegierde (z.B. in Richtung Sinn und Zweck der ganzen Anstrengung) demütig anzunehmen. So die – in meinen Augen – regressive Interpretation, die wohl auch eine Sehnsucht nach (einkaufs-)paradiesischer Unschuld zum Ausdruck bringt.
Man könnte dies aber auch als Ermahnung auffassen, für die Züchtung bestimmte Früchte nicht zu vernaschen. Diese wäre dann eine Interpretation im Sinne der Aufklärung oder auch einer nachhaltigen Entwicklung.
Für Hegel, der ja außer Philosoph auch Theologe war, beschreibt diese Geschichte den menschllichen Zivilisierungsrozess. Eva würde beim Adam Begehrichkeiten wecken und damit war der männschliche Wille erwacht. Um etwas Begehrliches zu erreichen, müsste der von Natur eher anspruchslose Adam fortan menschliche Kultur entwickeln, d.h. einen bestimmten, gewünschten Zustand willentlich herstellen, der eine Begehrlichkeit der Begehrten erfüllen hilft.
M/E sahen die Menschwerdung des Affen bekanntlich durch die Entwicklung von Arbeit gegeben, d.h. durch die sich entwickelnden Notwendigkeit und Fähigkeit, die eigenen Lebensmittel zu produzieren . Was zugleich heißt, etwas herzustellen, das im Kopf schon vorgedacht war. Es also etwas in Anbetracht auf eine gewünschte Wirkung / Qualität /Frucht der Mühen herstellen zu können. Was naturgemäß heißt, anhand der Ergebnisse zwischen guten und schlechten Plänen, Arbeitsweisen, Wünschen etc. unterscheiden zu lernen!
Die menschlichen Vorstellungen über Wünschenswertes, Gelungenes oder Verdorbenes usw., ändern sich nach M/E im Verlaufe der Geschichte mit der Entwicklung des menschlichen Herstellungsvermögens und der davon bestimmten Produktionsregeln, Aneignungsbedingungen usw. Religiöse Vorstellungen sahen sie als notwendige Zwischenstadien der Selbstvergewisserung über den gesellschaftlichen Nutzen menschlicher Anstrengungen, d.h. der Rückbindung (= Religion) bornierter Wünsche an die Wünsche anderer oder gemeinsamer Zwecke etc.
In ihrer „Schöfungsgeschichte“ ist die sich herausbildende Menschheit die „Schlange“, die die Vorstellungen über sich und die Welt, die sie im Zuge ihres allgemeinen Wachstums herausbildet, im Laufe ihres allgemeinen Wachstums immer wieder abgewirft und durch neue ersetzt.
Dabei wagten M/E die Hypothese, dass Spekulationen über göttliche Gebote usw. nach und nach durch „wirkliches Wissen“ über das zu Tuende ersetzt würden und sich daran auch menschlicher Fortschritt, d.h. Fortschritt in der Humanisierung bzw. Vergemeinschaftung menschlichen Planens, Wünschens und Tuns messen ließe.
Sie kritisierten die Überheblichkeit der damaligen „deutschen Philosophen“ (der Junghegelianer) gegenüber den von ihnen so genannten „religiös Beschränkten“. Mit einer antireligiösen Interpretation der Welt käme man, so M/E, nicht weiter. Die sei mindestens so beschränkt, wie die von ihnen kritisierten Religionen und würden nur neue idealistische Phrasen hervorbringen, die das Bestehende anders interpretieren und dadurch letztlich auch anerkennen. Stattdessen käme es darauf an, die beschränkte Welt (und damit die sie entsprechend beschränkt interpretierenden Philosophen) zu verändern. Modern gesagt: dass Menschen an verschiedenen Enden der globalen Produktion-Konsum-Ketten die Handlungschranken überwinden die sie davon abhalten, ihr menschliches Füreinanderdasein auch tatsächlich miteinander in die Hände zu nehmen.
(Wobei religiös gestimmte Menschen natürlich auch Siebenmeilenstiefel mitmenschlicher Emanzipation und deren Vorstellungen Teil der „Haut“ sein können, mit der moderne Menschen wachsen – mit der Idee einer Vereinigten Menschheit als Grundlage des freien Zusammenspiels.)
Soweit. Fortsetzung folgt
[Irgendwann]
Sehe gerade, dass die Überschrift historisch-materialistisch etwas korrekter „Religion – Schlangenhaut der menschichen Vorgeschichte“ heißen müsste :-). Bei der Gelegenheit, heute ein paar kleinere Verbesserungen angebracht.