Kommunismus scheint nun doch wieder in Mode zu kommen. Indiz: Aufmacher der Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 3/09 ist neben Elmar Altvaters Text über „Kapitalistische Plagen“ das Bekenntnis des italienischen Philosophen und Politikers Gianni Vattimo zu einem „neu zu denkenden Idealkommunismus“.
Bemerkenswert ist, dass Vattimo der Postmoderne zugeordnet wird innerhalb der er für eine viel beachtete „Philosophie des schwachen Denkens“ steht.
Schwaches Denken?
Aus der diesbezüglichen Bildungsferne (Philosophie des schwachen Denkens? Was es nicht alles gibt?!) betrachtet und nach einem nächtlichen Crashkurs möchte ich das versuchsweise so zusammenfassen: auf Husserl und Heidegger aufbauende Vorstellung eines Verschmelzens des erkennenden Denkens mit den zu erkennenden Dingen durch ein möglichst vorurteilsfreies (oder willensschwaches?) Einlassen auf den Gegenstand / Sachverhalt. Aufs Christentum zum Beispiel lässt sich Vattimo (gemäß einer Buchbesprechung von Jan Brachmann in der Beriner Zeitung vom 14.02.04) ein, indem er die „Menschwerdung Gottes durch den Christus Jesus von Narzareth“ als Schwächung eines allwissenden, allmächtigen totalitären Gottvater- Geistes zugunsten eines mehr mitmenschlichen Bedenkens menschlicher Fehlbarkeit und Ohnmacht sieht. (Der göttliche Geist muss sich abschwächen und säkularisieren, um sich verwirklichen zu können). Den nunmehr „schwachen Geist Gottes“ möchte Vattimo im menschlichen Denken als eben „schwaches Denken“ aufgehoben sehen, da dieses die einzige Garantie dafür sei, dass das Denken nicht (wieder) eine totalitäre bzw. undemokratische, gewaltsame Praxis gebiert.
Bei gutem Willen und hinreichend oberflächlicher Betrachtung ließe sich das als etwas umständlich formulierte Abgrenzung zum Dogmatismus und einem all zu strengen Moralismus interpretieren. Man könnte auch denken, dass sich auch Parallelen ziehen ließen zu der hier – im Fetischismustext – geäußerten Skepsis gegenüber einer vom Kontext, (den konkreten Beziehungen der Menschen zueinander und zu ihrer natürlichen Umwelt) abgehobenen Astrologie zur Deutung von sich um menschliche Reinheitsgebote, Sehnsüchte, Hilfeersuche, Wegmarkierungen usw. drehenden begrifflichen Fixsternen (wie „Gott“, Fortschritt“ oder auch „Rationalität“). Doch sieht man bei näherem Hinsehen, dass das Gegenteil der Fall ist.
Es gibt keine Wahrheit. So viel ist wahr!
Vattimo beginnt sein neues Glaubensbekenntnis mit der Behauptung, dass „die Irrtümer, und Schrecken des realen sowjetischen Kommunismus und danach auch des chinesischen“ zwar „nicht gänzlich“, folglich also doch weitgehend (!) durch den „immer noch ‚methaphysischen‘ Charakter der Marxschen Theorie erklären lässt„. Marx plus Lenin plus Stalin hätten nämlich dem totalitären hegelschen Idealismus („nur das Ganze ist wahr“, was dann in Adornos „das Ganze ist falsch“ mündete) nur auf die Füße geholfen.
Die Wahrheit aber sei …
„… der Feind jeder offenen Gesellschaft (…) oder einfacher, jeder Demokratie, denn wenn es in der Politik Wahrheiten gäbe, und wenn es eine wahre Ordnung gäbe, die man nur anzuwenden braucht, dann würde es keinen Sinn haben, zu wählen. Dann müsste man sich den Nobelpreisträgern, Weisen und Päpsten anvertrauen.“
Das ist allerdings selbst ein gutes Beispiel dafür, warum streithafte demokratische Willensbildung auf keinen Fall durch von „Weisen“ behauptete „Wahrheiten“ ersetzt werden darf, und warum im besonderen Maße Tatsachenbehauptungen misstraut werden sollte, die sich als „Philosophie des schwachen Denkens“ ausgeben nach der es erstens keine Wahrheit gibt (außer natürlich die der gerade selbst gemachten Behauptung) und diese zweitens gefährlich für die Demokratie sei. Schwach ist hier nicht nur die Logik sondern auch die Trennschärfe zwischen verschiedenen Bedeutungen von „Wahrheit.“
Durcheinander gehen etwa die rein spielerische Frage nach einer – weder erkennbaren noch praktisch interessierenden – „ganzen Wahrheit“ (zum Beispiel eines politischen Abkommens, zu dessen „ganzen Wahrheit“ auch das Schicksal der Fliege gehört, die sich im Moment der Unterzeichnung auf die frische Tinte gesetzt hatte) mit der Frage der Wahrheit bestimmter Behauptungen (bezogen auf Prognosen, Reichweiten, Voraussetzungen und Folgen, Untersuchungsmethoden und Ergebnisse, Ideologien, Zustandsbeschreibungen usw.) ohne die politische Entscheidungen in die Irre gehen müssen und zu deren Erkenntnis eben auch demokratische und weltoffene Meinungsbildungsprozesse notwendig sind.
Die Negation der Möglichkeit einer „wahren Ordnung“ wiederum ist – in Wahrheit – Hauen auf selbstgebaute Pappkameraden. Was soll eine „wahre Ordnung“ sein? Was ist deren Gegenteil? Eine unwahre Ordnung? Eine wahre Unordnung? Sinnvoll kann nach einer akzeptablen, für dies oder jenes und dieser und jener Zeit passenden, vielleicht auch dafür optimalen und in dem Sinne richtigen und also richtiges Zusammenleben ermöglichenden Ordnung gefragt werden. Aber nach deren „Wahrheit“?
Aus der Tatsache, dass die Suche nach der Wahrheit einer Ordnung keinen Sinn ergibt, nun messerscharf zu schließen, dass es überhaupt unsinnig oder gar gefährlich sei, auf Wahrheiten zu bestehen, ist nicht nur schwach sondern auch falsch gedacht. Fatal an der Negation der Möglichkeit, Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit des Erkennens von Wahrheiten ist unter anderem, dass dies den Raum für Suggestionen und Anmaßungen aller Art öffnet, besonders, wenn sie mit homöopathischen Mengen verabreicht werden.
„Vom Kommunismus wollen wir uns hier nur den Aspekt des Idealen weiter aneignen (…) das also, was eine Gesellschaft in Aussicht stellt, die frei ist von Herrschaft und deshalb von Privateigentum“
(Blätter, 3/09 S. 64)
Das mag eine Reihe Leser durchaus genau so sehen – und auch so sehen wollen. Aber nicht alle! Zum Beispiel diejenigen nicht, die darin eine Dämonisierung von jeglicher „Herrschaft“ an und für sich sehen, dies nicht nachvollziehen und lieber Marx in der Ansicht folgen mögen, dass Kommunismus keine Utopie sei, deren – wie schwach auch immer gedachten – „ganze Wahrheit“ sich die Wirklichkeit anzupassen habe, sondern Prozesse tatsächlicher Verallgemeinerung sozialer Zweckbestimmungskompetenz! (Diese Behauptung ist übrigens wahr, weil ich von mindestens einer Person weiß, die das so sieht und dieses Wissen zum Falsifizieren der Behauptung eines gemeinsamen Willens mit Vattimo ausreicht). Streng genommen enthält die ungefragte Eingemeindung der Leser/innen in die eigene Philosophie eine Wahrheitsanmaßung. In dem Falle kann man natürlich zu Recht einwenden, dass dies nur ein Fliegenschiss sei. Aber bei folgendem wird es schon etwas kritischer:
„Heißt das, dass wir eine verstaatlichte Ökonomie wollen, die einer Bürokratie anvertraut wird? Nach den Erfahrungen der Stalin-Jahre und der folgenden Zeit kann niemand mehr guten Glaubens den Kommunismus mit einem derart deformierten Bild identifizieren. Was immer auch die Gründe für jene Deformation gewesen sein mögen, kann dahin gestellt bleiben. Unserer Ansicht nach war es der Anspruch, mit der industriellen Entwicklung der westlichen Welt Schritt halten zu können, der die Illusion verstärkte, dass die staatlichen Strukturen das beste Mittel seien, die Warenproduktion zu organisieren, statt die Bestrebungen für ein Ende der kapitalistischen Herrschaft zu verwirklichen.“
(Blätter 3/09 S. 65)
Die Gründe für den Stalinismus „dahin gestellt sein“ zu lassen, offenbart den Unsinn der Behauptung, dass die Suche nach Wahrheit der Feind jeder Demokratie ist, und es ist auch nicht grad ein Plädoyer für offenen Meinungsstreit. Der wird ja auch nicht benötigt, wenn man der repressiven Behauptung einer „Wahrheit“ mittels Staatsgewalt nur die Gegenbehauptung entgegen zu setzten gedenkt, dass „die ganze Wahrheit“ eh nicht erkennbar ist und deshalb alle Behauptungen auf so schwachen Füßen stehen sollen, dass sowieso niemand mehr irgendwas für bare Münze nimmt. Und folglich auch die abstruse Behauptung „dahin gestellt bleiben“ kann, dass auf die Industrialisierung der Sowjetrepubliken bequem hätte verzichtet werden können und dass dies „Menschenleben gerettet“ hätte:
„Wenn Stalin sich der Transformation der sowjetischen Gesellschaft gewidmet hätte, ohne sie wie ein Wahnsinniger zu industrialisieren, hätte er zwar in den 50er Jahren nicht den Wettlauf im all gewonnen, aber er hätte viele Leben gerettet.“
Blätter 3/09 S. 60
Die in diesem Satz steckenden Gedanken sind in der Tat ein starkes Stück und man sucht verzweifelt nach Möglichkeiten seiner Abschwächung. Um die „Stärke“ der in dem Satz schlummernden Perspektiven würdigen zu können, muss diese aber erst einmal überzeichnet werden.
Also: Ich sehe in diesem nett anzusehenden Osternestsatz folgendes „dickes Ei“ versteckt:
Das an sich gütige Väterchen Stalin, das eigentlich (!) nimmer nur Menschenleben retten wollte, war lediglich vom Marx-Engelschen Fortschrittsdenken und dem Hegelschen Ganzheits- und Widerspruchsdenken verblendet. Wäre die SU ein Agrarstaat geblieben, der statt sich zu industrialisieren, Ernst mit Herrschaftsfreiheit und Aufhebung von Privatbesitz gemacht hätte, wäre alles gut geworden.
Es gibt viele gute Gründe für die Richtigkeit der These, dass die SU den Krieg gegen Nazideutschland nicht wegen sondern trotz Stalin gewonnen hatte. Aber von keinem ernsthaften Historiker hätte ich je gehört, dass dieser Sieg ohne die Industrialisierung hätte erreicht werden können.
Wie viel Menschenleben es noch gekostet hätte, wäre Nazideutschland nicht auf hinreichend starke Panzerarmeen gestoßen, hätte die Ölfelder des Kaukasus erreicht und die Siedlungsprogramme des „Generalplans Ost“ verwirklichen können, mag ahnen, wer die folgenden Wikipedia Artikel über den Generalplan Ost entnommenen Zahlen betrachtet.
Vertreibung und Vernichtung der slawischen Bevölkerung Osteuropas
Da die Mehrheit der einheimischen slawischen Völker für Eindeutschung ungeeignet schien und eine Germanisierung nur für einen kleinen Teil geplant war, sah die mit einer Besiedlung durch „Volksdeutsche“ beziehungsweise Nordeuropäer einhergehende Dezimierung der 30 Millionen im Einzelnen vor[9]:
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- Vernichtung oder Vertreibung von 80-85% der Polen
- Vernichtung oder Vertreibung von 50-75% der Tschechen
- Vernichtung von 50–60 % der Russen im europäischen Teil der Sowjetunion, weitere 15-25% waren zur Verlegung in den Osten (das heißt Umsiedlung bzw. Vertreibung hinter den Kaukasus und nach Sibirien) vorgesehen
- Vernichtung von 25% der Ukrainer und Weißrussen, weitere 30–40 % der Ukrainer und weitere 30–50 % der Weißrussen sollten in den Osten „ausgewiesen“ werden
Tatsächlich wurden bis Kriegsende etwa 30 Millionen Militärangehörige und Zivilisten slawischer Völker getötet (Russen, Ukrainer, Weißrussen, Polen, Tschechen, Slowaken, Serben, Kroaten, Bosnier usw.), über 20 Millionen davon aus der Sowjetunion (über 10 % der Bevölkerung), über sechs Millionen Polen (über 17 %), über zwei Millionen aus Jugoslawien (über 10 %).[10] Die besondere Brutalität des Vernichtungskriegs in der Sowjetunion, darunter auch zahlreiche militärstrategische Entscheidungen, wie zum Beispiel das bewusste Aushungern Leningrads, wo über eine Million Menschen starben, ist vor dem Hintergrund der langfristigen Ostraum-Pläne zu verstehen.
Die Verdrängung unangenehmer Wahrheiten scheint mir das Hauptproblem von Philosophien, deren Konzepte sich um die Interpretation von Sein oder Sollen „der Moderne“ oder nachfolgend „der Postmoderne“ ranken, Begriffe, die auch (!) als Euphemismen kolonialer, imperialistischer und neoimperialistischer Auslünderung gesehen werden können. Wenn plötzliches Gewahrwerden dieser Verhältnisse und sich daraus ergebendes Bewusstsein von Mitverantwortung für Gegenwart und Zukunft des mitmenschlichen Handelns zum neuen Nachdenken über kommunistische Perspektiven führt, ist das nicht schlecht. Aber die mitgebrachte Feindschaft gegen aufs Ganze gehenden bzw. gegen das Streben nach Richtigkeit der Lebensbedingungen aller Betroffenen im dialektischen Denken verspricht auch einiges Ungemach.
Die Auseinandersetzung wird fortgesetzt
Hatte die Auseinandersetzung dann doch nicht fortgesetzt, und das Ganze so gut wie vergessen. Es gäbe nun allerdings einen Grund, mir die Mühe zu machen, den O-Text, noch einmal hervor zu kramen. Wurde heute nämlich unsanft aus dem gnädigen Lass-mal-gut-Sein gerissen. Meine damalige Erwartung, dass von diesem Philosophen künftig „einiges Ungemach“ zu erwarten sei, war offenbar viel zu optimistisch. In einem Radiointerview präsentierte sich Vattimo nun als gefährlicher Irrer, der dafür sorgen will, dass die Hamas künftig nicht mehr nur mit „Spielzeugraketen“ ausgestattet würde. http://tachles.ch/news/philosoph-wuerde-zionistische-bastarde-am-liebsten-erschiessen